Die Opernvertonung

Für die musikalische Umsetzung suchten wir nach einer geeigneten Metapher, die einerseits sowohl die Unterschiedlichkeit der Religionsgemeinschaften und ihrer Protagonisten und andererseits ein starkes verbindendes Moment aller zeigt. Um mit der Opernvertonung von „Nathan der Weise“, dem Wesen als deutschsprachiges Werk in der europäischen Aufklärung gerecht zu werden, sollte die Musik abendländische Musiktradition wiederspiegeln. Das Ansinnen des Dramas war in seiner Intention nicht weltweit zur Religionsverständigung aufzurufen, sondern uns in Deutschland, in Europa, den Spiegel vorzuhalten. Diese Wurzeln des Werkes wollten wir unbedingt erhalten und zeigen.

 

Die Neuzeit Europas und die Vorboten der Aufklärung beginnen mit der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts. Mit ihr beginnt auch eine neue Musiktradition mit dreiklangbasierter Mehrstimmigkeit und rhythmisch geglätteten Formen, die aus der mittelalterlichen modalen Musik hervorgeht. Aus diesem musikalischen Neuaufbruch mit der Einführung von Streich- und Blasinstrumenten in Familien (in Anlehnung an das Gesangsquartett in verschiedenen Stimmlagen) entstehen das Stufensystem von Tonika und Dominantbeziehung und schließlich die ausschließliche Verwendung des Dur-Moll-Harmonie- sowie des Kadenz-Systems. Diese tonale Beziehungsabhängigkeit ist das Fundament der Musik vom Barock über die Klassik bis zur Romantik. Erst mit der atonalen Musik des 20. Jahrhunderts wird dieses tonale Geflecht verlassen. Aber erloschen ist das tonale System auch heute keineswegs. Weite Teile der Pop-Musik basiert weiter auf dem tonalen System.

 

Wenn man so will, reicht ein aufklärerischer Bogen der Neuzeit von der frühen Renaissance mit Giovanni Boccaccio über die Generation Immanuel Kant bis zum Gesellschaftstheoretiker Karl Marx im 19. Jahrhundert. Einen Bogen, den wir auch zumindest annähernd musikalisch spiegeln wollten.

 

Mit diesen Vorgaben als Prämisse entschieden wir uns für eine neuartige Musikcollage als wesensbestimmendes Moment für die Vertonung von Lessings „Nathan der Weise“. Uns gefiel, dass wir bei dieser Herangehensweise nicht nur den künstlerischen Bogen der abendländischen Musiktradition von mehr als 300 Jahren zeigen konnten, sondern dem Weltstoff „Nathan der Weise“ auch Stimme durch eine Werkschau aus dem Fundus der besten Komponisten von Barock über die Klassik bis zur Romantik geben konnten.

 

Wir entwickelten eine einfache Analogie: drei Religionen, drei musikalische Stilepochen. Jede Religion bekam eine Stilepoche der tonalen Musik zugeordnet: Christen – Musik des Barock, Juden – Musik der Klassik, Muslime – Musik der Romantik. Jeder Bühnenrolle gaben wir dann einen Komponisten als „Paten“. So entstand eine Art überhöhter Leitmotivik, erhielt doch jede Bühnenrolle eine ganz einzigartige Musiksprache. Die deutsche Herkunft Lessings auch musikalisch zu berücksichtigen, entschieden wir uns, ausschließlich deutschsprachige Komponisten zu verwenden.

 

Die Bühnenrolle des Nathan ist eine von Lessing angelegte Hommage an seinen Freund, den Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn. Da war es naheliegend, Nathan musikalische Stimme durch den Enkel Felix Mendelssohn Bartholdy zu geben. Felix Mendelssohn Bartholdy lässt sich als später Vertreter der Musik der Klassik verstehen, die die Musiksprache der Aufklärung ist und damit die Rolle des Nathan in hervorragender Weise musikalisch unterstützt.

 

Die große Entwicklungsrolle des Tempelherren bedurfte der Musiksprache eines großen Sakralkomponisten der Barockmusik. Mit der Wahl von Johann Sebastian Bach, verleiht einer der größten Komponisten überhaupt dem jungen Tempelherren überzeugende musikalische Stimme.

 

Der mächtige Sultan Saladin sollte durch eine reiche, hochemotionale Tonsprache der Romantik klanglich dargestellt sein. Mit Richard Wagner gelingt nicht nur die Wahl einer ausladenden Musiksprache, sondern zugleich auch ein Stachel, eine Kontroverse und vielleicht auch ein Angebot für eine Brücke, die Ideologien hinter sich zu verlassen mag. So sehr die Tonsprache Wagners zu der Rolle des Sultans passt, so sehr war doch die strenge Leitmotivik Wagners zu berücksichtigen und es war wichtig, überzeugende Analogien in den Lessingschen Text herzustellen.

 

Recha, die angenommene Tochter Nathans, die in Unwissenheit über ihre christlichen Wurzeln aufwächst, aber auch nicht als Jüdin erzogen wird, ist wie geschaffen für die leichte, unschuldige und intelligente Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Da Recha erst am Ende des Stückes über ihre christlichen Wurzeln aufgeklärt wird, erhielt sie ihre Stimme aus der Klassik, denn sie fühlt sich Nathan zugehörig.

 

Daja, die Gesellschafterin Rechas im Hause des Nathan ist Christin. Streng im Wesen, standhaft und zuverlässig in ihrem Inneren, verleiht ihr der große in London lebende deutsche Komponist Georg Friedrich Händel einen idealen musikalischen Auftritt. Daja weiß um das christliche Geheimnis Rechas und als gute Christin hat sie ihre ganz eigenen Pläne für Recha, die sie zurück in den Schoß des Christentums wünscht.

 

Der Klosterbruder brachte einst Recha als Neugeborenes zu Nathan. Ihre Eltern waren in kriegerischen Wirren verstorben, so wie gerade zuvor alle sieben Söhne und die Frau Nathans. Als heimlicher Diplomat mit gutem Herzen und dennoch ein gehorsamer Gefolgsmann seines Patriarchen, erfüllt er still und geschickt seine Aufgaben. Heinrich Schütz verleiht ihm musikalische Schlichtheit und, wo von Nöten, Unauffälligkeit.

 

Sittah, die Schwester Saladins, die Ausgleichende und Machtvolle im Hintergrund bedurfte ein musikalisches Korrektiv zu Saladins Wagnerismus. Die Tonsprache Gustav Mahlers gibt Sittah das ihr zukommende Gewicht, aber auch die notwendige Wendigkeit und Herzensstrahlkraft.

 

Der Patriarch von Jerusalem; in ihm verkörpert Lessing den ihm verhassten Pastor Goeze. Knöchern, skrupellos, ewig gestrig und machtbesessen ist er die einzige unsympathische Figur im ganzen Werk. Umgeben von Lakaien und doch allein singt er in einstimmiger alter Gregorianik in der Gesangstechnik des Falsett und steht damit auch musikalisch ausgegrenzt.