Die Literaturvorlage

Eines der großen philosophischen und aufklärerischen Werke, das im Sujet eines interreligiösen Beziehungsdrama den Gedanken von Humanismus und Toleranz verarbeitet, ist Lessings „Nathan der Weise“. Als Grundstein für dieses Bühnenwerk entlehnt Lessing die von Giovanni Boccaccio verfasste Ringparabel aus dem Novellenband Decamerone aus dem 14. Jahrhundert. Inhaltlich geht es Lessing aber um die Fortführung des sogenannten Fragmentenstreites, den er mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, einem Vertreter der orthodoxen lutherischen Theologie führt. Ausgangspunkt des Fragmentenstreites waren Schriften des Hamburger Gymnasiallehrers Hermann Samuel Reimarus, der Lessing seine Schriften „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ zur anonymen Veröffentlichung überließ. Lessing publizierte verschiedene dieser Abhandlungen in der durch ihn geleiteten Zeitschrift „Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“. Besonders der vierte Beitrag führte zu heftiger Kritik. Obwohl Lessing die „anonymen“ Beiträge kritisch kommentierte, wurde er für die Abhandlungen Reimarus’ inhaltlich verantwortlich gemacht. Als der Streit 1778 eskalierte, wurde Lessing die Zensurfreiheit für die Beiträge aberkannt und gleichzeitig erhielt er ein generelles Publikationsverbot für das Gebiet der Religion. Er setzte die Diskussion mit dem Drama „Nathan der Weise“ als Literatur fort.

 

Für die Opernvertonung interessierte uns im Wesentlichen das interreligiös ausgearbeitete Erzählgerüst von Lessings Drama „Nathan der Weise“ und die enthaltene Ringparabel. Die weitschweifenden Ausführungen, den Fragmentenstreit betreffend, haben wir weitestgehend gestrichen, wodurch nicht nur eine für die Oper adäquate Textlänge erreicht wurde, sondern auch unser Anlass für die Opernvertonung, den Aufruf zu interreligiöser Toleranz und Brüderlichkeit herauszuarbeiten, in prononcierter Weise erfüllt werden konnte. Etwa vierzig Prozent des Volltextes ergeben das Opernlibretto. Die Originalverse des Dramas sind im Wesentlichen beibehalten worden, wenige Brücken wurden für den Erhalt der Verständlichkeit eingefügt. Ebenfalls verkleinert wurde das Tableau der agierenden Figuren und enthält nun Nathan, den weisen Juden; Sultan Saladin, den Herrscher über Jerusalem; einen jungen, vom Sultan begnadigten Tempelherrn; den christlichen Patriarchen von Jerusalem; Recha, die angenommene christliche Tochter von Nathan; Daja, die christliche Gesellschafterin von Recha; einen Klosterbruder und Sittah, die Schwester von Sultan Saladin.